Immer mehr Japaner klinken sich aus der Gesellschaft aus. Viele kommen Jahrzehnte nicht aus ihrem Zimmer. Warum bekommen Eltern, Staat und Fachleute das Problem nicht in den Griff?

Von einem Tag auf den anderen taten Kenjis Mitschüler so, als sei er Luft für sie. Den Siebtklässler grüßte niemand mehr auf der Straße, keiner spielte ihm beim Sport den Ball zu, im Gang vor den Klassenzimmer blickten alle durch ihn durch als sei er aus Glas oder rempelten ihn wortlos an. Irgendwann kam Kenji nicht mehr zur Schule, wurde Hikikomori und zog sich in sein Zimmer zurück – für die nächsten 20 Jahre. Kenji schloss tagsüber die Tür ab, verbrachte die Nächte mit Filmen, Manga und Videospielen.

Auch Jun entschied sich für einen jahrelangen Totalausstieg, nachdem er durch eine Uni-Aufnahmeprüfung gerasselt war. Sich ein Jahr lang auf eine Nachprüfung vorzubereiten, die eigentlich nichts mit dem angestrebten Studienfach zu tun hatte, erschien im plötzlich paradox – und so kehrte er der japanischen Gesellschaft den Rücken.

Japans verlorene Millionen

Kenji und Jun sind zwei der Personen, deren Schicksal Michael Zeillinger in seiner Sozialstudie „Shutting out the sun – How Japan created its own lost generation“ analysiert. Und sie sind keine Einzelfälle. Die Beiden sind Hikikomori, so nennt man in Japan jemanden, der sich über sechs Monate komplett aus der Gesellschaft ausklinkt und in die eigenen vier Wände zurückzieht.

Geschätzte eine Million junge Japanerinnen und Japaner zählen dazu, knapp ein Prozent der Bevölkerung. Zwei Drittel davon sind unter dreißig Jahren. Insgesamt 80 Prozent von ihnen sind männlich. Die meisten wohnen noch bei ihren Eltern. Die Tür öffnen sie teils jahrzehntelang nur, um ab und an unter die Dusche zu gehen oder die Toilette zu benutzen. Das Essen stellen die Eltern vor der Tür ab. Nur wenige Hikikomori gehen nachts in den 24-Stunden-Supermarkt um etwas einzukaufen. Sprechen tun sie mit niemanden – auch nicht mit ihren Eltern, die mit der Situation ebenso überfordert sind wie der japanische Staat.

Psychisches oder doch soziales Problem?

Ein weit verbreiteter Irrtum ist, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter Psychosen, Agoraphobie oder Formen von Autismus leiden. Mit solchen Erkrankungen zeigen die Verhaltensweisen der Hikikomori nur teilweise Übereinstimmungen. Die meisten von ihnen sind schüchtern und introvertiert, aber intelligent, kreativ und in den meisten Fällen aus einem „guten Elternhaus“.

Immer wieder jedoch schleifen verunsicherte Eltern ihre Aussteiger-Kinder zum Neurologen, der dann schnell eine handvoll Psychopharmaka verschreibt. Ändern tut sich dadurch allerdings nichts, denn das Hikikomori-Phänomen ist vielmehr eine soziale Störung. Eine Mischung aus Zukunftsangst, Auflehnung gegen das System der Eltern gegen die japanische überregulierte Gesellschaft und die tragische Schattenseite von Japans elitenfixiertem Bildungsystem.

Bildungsganggesellschaft: Quereinstieg unerwünscht

Die japanische Gesellschaft ist eine Bildungsganggesellschaft. Das bedeutet, dass nur derjenige Karriere in Top-Unternehmen machen kann, der auf einer guten Grund-, Mittel- Oberschule und Universität war. Jeder Schritt ist dabei entscheidend, wer bremst, verbaut sich die Zukunft. Quereinsteiger gibt es nach wie vor kaum. Das setzt japanische Jugendliche unter enormen Druck.

Neben dem Geldbeutel der Eltern entscheiden die wirklich knallharten Aufnahmeprüfungen, ob ein Kind den nächsten Bildungsabschnitt auf einer vielversprechenden Privatschule verbringen darf. In den Juku, so genannten Paukschulen, werden die Kinder nach dem regulären Unterricht und in den Ferien für den Prüfungsernstfall gedrillt.

Diesem gesellschaftlichen Druck, den vor allem die Mütter an ihre Kinder weitergeben, halten viele Jugendliche nicht stand. Die Selbstmordrate der unter 13-jährigen ist in Japan seit Jahrzehnten konstant auf einem hohen Niveau. In vielen Fällen entlädt sich der Druck aber auch durch extreme Gewalt und Mitschüler-Mobbing (Ijime). Viele Hikikomori geben Misshandlungen durch Mitschüler als Auslöser für ihren Rückzug an. Auch der Konflikt, die eigenen Gefühle immer hinter Verpflichtungen und einer Maske aus Verhaltensregeln zu verstecken, bringt Jugendliche dazu, sich aus der japanischen Gesellschaft zurückzuziehen. Solche Hikikomori erklären häufig, dass sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen haben, weil sie nur dort wirklich sie selbst sein konnten.

Hikikomori typisch japanisch?

Nachdem in Dr. Tamaki Saitos Tokioter Büro Mitte der 80er Jahre immer häufiger junge Leute oder deren Eltern auftauchten, die von den monatelangen Rückzügen berichteten, benannte der Professor für Psychologie das Phänomen als Hikikomori (in sich selbst zurückgezogen oder sinngemäß: akuter gesellschaftlicher Rückzug). Ähnliche Fälle gibt es in Taiwan oder Südkorea, vereinzelt auch in westlichen Staaten – aber nirgends in der Größenordnung wie in Japan.

Das liegt zum einen daran, dass Japaner auf Stress und Verzweiflung eher lethargisch und durch extrem introvertiertes Verhalten reagieren. Dass sich Hikikomori aber erst in den vergangenen 25 Jahren in Japan zu einem Massenphänomen entwickelt hat, ist ein Indiz dafür, dass der Auslöser aktuelle gesellschaftliche Probleme sind.

System der Eltern in der Sackgasse

Japan hat sich bei seiner Aufholjagd zu einer modernen Geselllschaft nach westlichem Vorbild fast ausschließlich auf die materielle Selbstverwirklichung konzentriert. Für persönliche Entfaltung blieb bei Schulstress, Paukschulen und gesellschaftlichen Verpflichtungen kaum Platz. Solange das Karriererezept der Älteren funktionierte, konnte die Jugend darauf vertrauen, dass dieser Weg zumindest beruflich erfolgversprechend ist. Die Einschätzung änderte sich aber mit der ausbleibenden Erholung von den beiden Finanzkrisen der vergangenen 20 Jahre, der steigenden Jugendarbeitslosigkeit trotz Top-Ausbildung, dem Ende der lebenslangen Beschäftigung und dem rapiden Zuwachs an Obdachlosen und Tagelöhnern, die kaum mehr vermittelt werden können.

Einfach nur raus: Furiter und Sotokomori

Japans Jugend will heute mehr denn je die Schockstarre überwinden, in der die Gesellschaft seit dem Platzen der Spekulationsblase Anfang der 90er verharrt. Dafür werden auch alternative Pläne zur Lebensgestaltung und beruflichen Selbstverwirklichung geschmiedet (Beispiel: Teilzeitjobber Freeter/furita) – von denen wollen die älteren Generationen aber nichts wissen.

In den Hikikomori zeigt sich eine Form der daraus resultierenden jugendlichen Resignation. Viele Hikikomori schaffen erst über das Auswandern die Rückkehr in eine Gesellschaft. Ebenso machen es immer mehr japanische Akademiker, die nach der Uni keine Jobs finden. Mit Gelegenheitsarbeit halten sich diese sogenannten Sotokomori (sich nach außerhalb Zurückziehende) in Ländern wie Tailand und Indien über Wasser. Immer noch besser als sich zuhause ständig für eine unverschuldet verpasste Karriere rechtfertigen zu müssen.

In Japan steht längst ein gesellschaftlicher Umbruch an. Die Finanzkrise hat den Menschen bei ihrer Hetzjagd nach der Bilderbuchkarriere eine unfreiwillige Atempause verschafft. Und die Jugend entwickelt bereits neue Wege der beruflichen Selbstverwirklichung und persönlichen Lebensgestaltung. Die älteren Generationen werden sich diesem Wunsch öffnen müssen. Oder können weiterhin zusehen, wie „Japans verlorene Million“ (BBC) der Gesellschaft die Tür vor der Nase zusperrt.

Bildquelle Titelbild: „Hikikomori: Foto by Sphilbrick – commons.wikimedia.org zu finden unter https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hikikomori,_Hiasuki,_2004.jpg“

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. andreas schuster

    „Nerdiger Hikikomori in seinem Reich“
    Den finde ich super!

    Toller artikel und gute Bildauswahl!

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