Kaum jemand denkt beim Thema Armut an Japan – vor allem nicht die Japaner selbst. Aber die zwei Wirtschaftskrisen haben den Volkswirtschaftsgiganten ganz schön ins Wanken gebracht. In den Parks der Großstädte breiten sich die Obdachlosensiedlungen aus Pappkartons und Plastikplanen aus. Das Land hat schlecht vorgesorgt und steht nun vor einem Riesenproblem.
Erst Trümmerland, dann Wirtschaftsgigant
Japans Aufstieg zur Weltwirtschaftsmacht ist wohl die beeindruckendste Phoenix-aus-der-Asche-Geschichte der Nachkriegszeit. Nach der fanatischen Gegenwehr der Japaner bei der Schlacht um Okinawa (1945) waren die US-Streitkräfte davon überzeugt, dass das Inselreich gänzlich dem Erdboden gleichgemacht werden müsse.
Zum Glück entschieden die Besatzer unter dem Kommando von General Douglas MacArthur dann doch, das Land zu entmilitärisieren und den Wiederaufbau zu überwachen. Keine zehn Jahre später erwies sich das geläuterte Japan als „unversenkbarer Flugzeugträger der USA“ im Kampf gegen den ostasiatischen Kommunismus. Von 1950 bis 1953 führten die UN, allen voran die Vereinigten Staaten, Krieg an der Seite Südkoreas gegen den kommunistischen Norden des Landes, der wiederum von China, Russland und Polen unterstützt wurde.
Weil die US-Industrie vollkommen ausgelastet war, erhielten Unternehmen im nach wie vor besetzten Japan den Auftrag, die nötigen Kriegsmittel herzustellen. Außerdem stiegen die Preise von Alltagsprodukten auf dem Weltmarkt, weil die westlichen Mächte enorme Kapazitäten für die Kriegsindustrie aufbrauchten. Auch diese Versorgungslücke schlossen die Japaner und gaben damit den Startschuss für einen Wirtschaftsboom, der dem Land jahrzehntelang Wachstumsraten im zweistelligen Bereich sicherte.
Bubble Economy: Eine Wirtschaftsmacht implodiert
1968 überholten die „blauen Ameisen“ die Wirtschaftsmacht BRD und Ende der 70er schürten die Japaner mit Milliardeninvestitionen und Grundstücksankäufen an der US-Westküste die Angst vor einer neuen „gelben Gefahr„. Daran konnte auch die Abwertung des Yen nichts ändern. Das Außenhandelsdefizit der Vereinigten Staaten blieb zu deren Ungunsten erhalten, da japanische Produkte inzwischen nicht nur billiger, sondern auch qualitativ hochwertiger waren. Dieser Erfolgsgeschichte versetzten jedoch maßlose Immobilien- und Aktienspekulationen den Todesstoß: Mit Aktienan- und -verkäufen werteten sich japanische Unternehmen untereinander immer weiter auf.
Sie kauften Grundstücke, deren Preise durch die Nachfrage in irreale Sphären stiegen. Die Banken wiederum gaben bereitwillig Kredite, die von eben jenen unrealistisch hohen Immobilienpreisen gedeckt waren. Diese Spekulationsblase platze im Jahr 1990. Innerhalb eines Tages sank der Wert der Immobilien um 75 Prozent. Dadurch implodierte auch der Aktienmarkt, weil ein Großteil des Firmenkapitals auf eben jenen Immobilien basierte. Unternehmer, Banken, Versicherungen, vor allem aber auch Privatanleger wurden mit voller Wucht auf den Boden der Tatsachen zurückgeschmettert. Japan erlebte die größte Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Seitdem steigt die Zahl der Erwerbslosen (1990: 2 Prozent / Höhepunkt 2003: 5,5 laut METI) und das Arbeitslosigkeitsproblem zeigt sich nun auch im Stadtbild japanischer Metropolen.
Schachtelmänner: Siedlungen aus Pappkarton
In Japan, wo das Wild-Campen nicht unter Strafe steht, entstehen mit rapid steigenden Arbeitslosenzahlen an Flussauen und in städtischen Grünanlagen ganze Obdachlosenstädte. Als japanische rough-sleepers-Hochburgen gelten Tokio und Osaka, sowie Nagoya, Yokohama und Kawasaki. Viele Firmenangestellte, deren Job plötzlich gestrichen wurde, wählen ein Leben auf der Straße, um ihrer Familie die Schmach zu ersparen. Vor allem aus den Vororten in die Ballungszentren ausgewanderte junge Japaner gaukeln ihren Eltern am Telefon vor, es in der großen Stadt zu etwas gebracht zu haben, während sie sich in Wahrheit mit Gelegenheitsarbeit durchschlagen und unter freiem Himmel kampieren.
Wer sich keine Übernachtungen in einer der Capsule-Hotel-Schlafwaben oder einem Sessel mit Waschbecken im 24 Stunden-Internetcafe leisten kann, schlägt sein Nachtlager unter Pappkartons und Plastikplanen auf. In vorangegangenen Rezessionen haben arbeitsuchende Japaner immer wieder auf diese Weise finanzielle Durststrecken überstanden. Das Leben unter freiem Himmel wird als Übergangsphase verstanden. Dadurch erklärt sich auch der geringe Verwahrlosungsgrad (sorry für die Vokabel) der japanischen Obdachlosen. Zum Beispiel werden Schuhe vor der Pappwohnung ordentlich aufgereiht, das Innere sauber ausgefegt, die Kleidung in den öffentlichen Toilettenhäuschen gereinigt und zum Trocknen in die Parkbäume gehängt.
One-Way-Ticket in die Parallelgesellschaft
Japans Wirtschaft erholt sich nur sehr langsam von den Finanzkrisen der vergangenen 20 Jahre. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt jedoch verschlechtert sich zunehmen. Auch wenn die Statistiken teils extrem abweichende Zahlen liefern, so ergibt die Tendenz eindeutig, dass sich die Arbeitslosenquote in Japan seit 1990 mindestens verdoppelt hat. Viele sind zu stolz, um Sozialleistungen zu beantragen, wodurch genaue Zahlen nicht erhoben werden können.
Auch wie viele Menschen dadurch obdachlos werden, ist nicht bekannt. Schätzungen gehen zum Beispiel in Tokio von etwa 43.000 Menschen aus. In Osaka sind es etwa 8.600. Alarmierend ist bei den Zahlen vor allem, dass diesen rough-sleepers sind inzwischen etwa sieben Prozent seit über zehn Jahren ohne Arbeit und festen Wohnsitz sind.
Im Tagelöhnerviertel regiert die Yakuza
Da Betteln per Gesetz verboten ist, sammeln Obdachlose Pfandflaschen oder verkaufen Taschentücher, die in Japan überall als Werbeflyer verteilt werden und meisten direkt danach im Mülleimer landen. Ein weiteres Problem ist auch, dass die staatlichen Arbeitsvermittlungen bei weitem nicht so effektiv vernetzt sind, wie die japanischen Mafia-Syndikate (Yakuza). Diese beherrschen Baubranche und Vergnügungsindustrie. So können sie kurzfristig Jobs besorgen. Obdachlose werden dadurch allerdings zu Tagelöhnern, ohne Sozialversicherung und ohne Perspektive auf eine regelmäßige Beschäftigung.
Das wenige Geld reicht kaum zum Überleben und wird meist direkt für Alkohol und Glücksspiele ausgegeben. Viele der Männer leihen sich bei der Mafia Geld, sind deshalb hochverschuldet und lassen sich von ihren Gläubigern in kriminelle Geschäfte drängen. Weil die Polizei die Obdachlosensiedlungen meidet, werden diese zu beliebten Schlupfwinkeln für gesuchte Verbrecher. Darunter leidet das Ansehen der so genannten Schachtelmänner.
Berührungsängstliche & Armutszeugnisfälscher
Karitative Einrichtungen und Bürgerinitiativen versuchen durch Suppenküchen, Decken- und Kleiderspenden die Lebensumstände der Obdachlosen zu verbessern. Leider gibt es immer wieder Fälle, bei denen Hilfsprojekte durch überängstliche Anwohner eingestellt werden müssen. Beispielsweise gaben besorgte Eltern im Tokyoter Bezirk Sanya an, dass ihre Kinder Schaden davontragen könnten, wenn sie auf dem Schulweg mit den „Schachtelmännern“, die sich dort täglich in die Schlange der Essensausgabestelle einreihten, in Kontakt kommen. Die Helfer mußten ihre Armenküche daraufhin schließen.
Die Regierung geht das Problem grundsätzlich nicht konsequent genug an, versucht lieber das Ausmaß an Armut zu beschönigen, indem beispielsweise die Obdachlosen-Camps immer wieder umgesiedelt oder aufgelöst werden. Für den Osaka-Marathon im Jahr 2007 ordnete die Stadt die Räumung der Parks rund um das Stadtschloß an. Die Obdachlosen organisierten daraufhin Demonstrationen und zogen mit Hilfe von Bürgerrechtlern vor Gericht, um ihren Anspruch auf die Parkdomizile geltend zu machen. Leider wurden ihre Anträge abgelehnt. So blieb den weitgereisten Läufern ein Blick auf Papphaussiedlungen und Zeltdörfer aus blauer Plane erspart.
Keine Besserung ohne Boom?
Auf eine große Reform der Sozialabsicherung, etwa durch die Einführung von Wohngeldzuschüssen, warten Japans Obdachlose bislang vergeblich. Erste gute Schritte sind auf jeden Fall das „Sondergesetz zur Förderung der Eigenständigkeit von Obdachlosen“, welches 2002 verabschiedet wurde, oder auch die zusätzlich zur Verfügung gestellten Mittel für mobile Beratungsstellen und Jobcenter. Aber solange die japanische Wirtschaft nicht parallel hierzu angekurbelt wird und dadurch vor allem echte, sozialversichungspflichtige Jobs geschaffen werden, sind solche Maßnahmen nur Tropfen auf dem heißen Stein.
Der erfolgsorientierten japanischen Gesellschaft stünde gut, Gescheiterten offen den Rücken zu stärken, statt diese durch Fremdscham und Ignorieren zu bestrafen. Denn wie schnell und tief jeder auch im Vorzeigewirtschaftsland Japan abstürzen kann, zeigen die sauber aufgereihten, frisch geputzten Herrenschuhe vor den Eingängen der Schachtelmann-Behausungen.
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