Lost Places in Japan
Lost Places – Geisterstädte, verlassene Freizeitparks und Industriebrache – locken Urban-Explorer aus aller Welt in die Sperrgebiete Japans. Im Internet veröffentlichen sie Fotogalerien, Videos und Berichte ihrer Ausflüge.
Wie ein gewaltiger Wellenbrecher aus Beton ragt die Gunkanjima (Schlachtschiffinsel) unweit der Hafenstadt Nagasaki aus dem Meer. Die Minenkolonie Hashima war einst einer der dicht besiedeltsten Orte der Welt. Heute ist die Insel menschenleer. Meistens jedenfalls. Denn solche Lost places ziehen Japans Hobby-Ruinenforscher an. Haikyoing, nennen die Urban Explorer ihr nicht ganz ungefährliches Abenteuer, denn ein Besuch der maroden Gemäuer kann leicht auf dem örtlichen Polizeirevier oder im Krankenhaus enden. Vorausgesetzt natürlich, man hat überhaupt jemanden dabei, der einen dort hinbringen kann.
Insta-Goldgrube Haikyoing
Verlassene Dörfer, Freizeitparks und Industrieanlagen gibt es in Japan aber unzählige. Auf aktuellen Landkarten und bei Google-Maps haben sie längst aufgehört, zu existieren. Wer aber durch ein Loch im Zaun steigt, fühlt sich, als würde er durch den Bilderrahmen eines vergilbten Fotos in die Vergangenheit reisen, um dort ein Geheimnis aus alter Zeit zu lüften. Solche Entdeckungstouren werden dann im Netz mit reichlich Hintergrundinfos dokumentiert – und auch extrem gern geklickt.
Inzwischen bietet deshalb auch die japanische Tourismusindustrie Erlebnisreisen in die beliebtesten Geisterstädte an. Wer sich also bei seinem Japan-Besuch einen Blick auf verfallene Dörfer und Industrieruinen mit einem ordentlichen Schuss Silent-Hill-Romantik gönnen will, für den folgen hier einige Tipps, Blogs und Fotogalerien zur Tourplanung in Reisegruppen oder auf eigene Faust.
Battle Royal auf der Schlachtschiffinsel Hashima
Die Königin der Geisterstädte ist mit Abstand die verlassene Insel Hashima, wegen ihrer Sihouette auch Schlachtschiffinsel genannt. Das Endzeitszenario des Ruinenlabyrinths lockte schon Film- und Videospieleindustrie auf das Eiland. Takeshi Kitano drehte hier seinen Battle Royal und auch Skyfall-Bond-Bösewicht Raoul Silva nutze Hashima als Schlupfwinkel. Außerdem wurde die Stadtarchitektur für Leveldesigns des 3D-Shooters Killer Seven übernommen.
Seit 1916 beutete Mitsubishi die Kohlevorkommen Hashimas aus, errichtete dafür sogar eine komplette Arbeitersiedlung auf der Insel. Während des 2. Weltkriegs wurden die einheimischen Kumpel durch Zwangsarbeiter aus Korea und China ersetzt, die sich hier totschufteten. Mindestens 1.300 Leichen wurden damals einfach in der See versenkt oder in den Tunnelschächten tief unter dem Meeresspiegel verscharrt.
Nach dem Krieg wurde die Insel dann zum Vorzeigeobjekt der japanischen Modernisierung. Durch Aufschüttungen an den Küsten (Umetatechi) erreichte die Insel zuletzt eine Ausdehnung auf 6,3 Hektar. Kindergärten, Badeanstalten und andere Freizeitangebote entstanden auf den Dächern über den Betonschluchten und bis tief in den im Untergrund bildete sich eine städtische Infrastruktur – alles im Besitz von Mitsubishi. Anfang der Sechziger wurde eine Bevölkerungsdichte von 83.476,2 Einwohnern pro Quadratkilometer festgestellt – einer der höchsten jemals aufgezeichneten Werte.
Adventure Time gleich mitbuchen
1974 war plötzlich alles vorbei: Die Grube wurde von einem Tag auf den anderen geschlossen. Die Arbeiter mussten die Insel so überstürzt verlassen, dass heute noch komplett eingerichtete Wohnungen erhalten geblieben sind. Mitsubishi verbot das Betreten und Gunkanjima wurde zur Geisterinsel. Außer einigen Schnappschussjägern und abenteuerlustigen Jugendlichen traute sich 35 Jahre lang fast niemand mehr, Hashima einem Besuch abzustatten. Inzwischen hat der Konzernriese die kleine Insel an die Stadt Nagasaki abgetreten. Von hier aus werden Inselumrundungen mit dem Motorboot angeboten. Seit 2009 sind zudem Teile der Insel wieder begehbar.
- Hashima-Fotoserien – auch zum Leben auf der Insel vor 1974 – gibt’s von Saiga Yuji.
- Wahnsinns Bilder und einen tollen Bericht zum heimlichen Absteher nach Hashima gibt’s bei Gakuran.
Die Spooky-Pools von Osarizawa
Die verlassene Osarizawa-Kupfermine befindet sich in der Nähe der Stadt Kazuno in der japanischen Präfektur Akita. Für Touristen gibt’s hier ein Bergbaumuseum und die 800 Meter lange Geisterbahn „Mineland“ in der Touristen von Loren aus Aliens mit Laserkanonen abballern können.
Echte Haikyo-Fans sollten abseits der Tour über die Steinröhren den Berg in den interessanteren Bereich der Raffinerie hinaufsteigen. Dort gibt es leuchtendblaue Pools vor der einer Ruinenkulisse, die an einen Tempel erinnert. Früher wurde hier jährlich eine Millionen Tonnen Kupfer abgebaut, in den Pools raffiniert und auf eigens hierfür verlegten Eisenbahnschienen abtransportiert. Wie im Falle Hashimas wurde der Ort aufgegeben, als die Mine ausgebeutet war. Auf dem Gelände gibt es etliche Verschläge, Leitungen, Röhren, Tunnel, Schlote und Mineneingänge zu entdecken. Über 800 Kilometer Schächte haben die Bergleute in 1.300 Jahren Kupferabbau mühsam in den Berg getrieben. In die Höhlenwände gehauene Kreuze zeugen davon, dass sich hier einst japanische Christen vor Verfolgung versteckten.
Detaillierte Karten der Tunnelsysteme existieren übrigens keine, also vorsichtig sein beim Erkunden: Ihr wisst, was mit Tom und Hucks Angstgegner Indianer-Joe passiert ist!
- Hier gibt’s einen Bericht mit Bildern zu Osarizawa. Inzwischen hat der SF-Autor und notorische Urban Explorer, Michal John Grist, auch ein Buch zu seinen Eskapaden rausgebracht „Ruins of the Rising Sun„.
Ashio: Durch Umweltverschmutzung zur Geisterstadt
Ashio oder Ashiodozan in der Präfektur Toshigi ist aus zwei Gründen ein super Haikyoing-Ziel: Das Betreten der kompletten Stadt, samt Kupferraffinerie und Bahnhof, ist auf eigene Verantwortung erlaubt. Außerdem ist dieser Ort wie kein anderer (mit Ausnahme natürlich der Gegend um Fukushima) von Tod und Unglück der vergangenen Jahre gezeichnet, denn Ashidozan wurde durch eine Umweltkatastrophe zur Geisterstadt.
1853 waren Kanonenboote der Amerikaner vor Japan aufgetaucht, um die Öffnung des Landes für den Welthandel zu erzwingen. Die Regierung in Tokyo fürchtete, Japan könne ebenso wie inzwischen ganz Ost- und Südostasien zumindest in Teilen kolonialisiert werden und peitschte mit Beginn der Meiji-Ära (1868 bis 1912) Industrialisierung und die aggressive Territorialerweiterung in den Nachbarstaaten voran. Der Schlüssel hierzu war der Handel mit Edelmetallen, vor allem Kupfer. Umweltschutz spielte zu dieser Zeit natürlich überhaupt keine Rolle. Umso mehr aber Orte mit reichen Vorkommen, wie Ashiodozan.
Da wächst kein Gras drüber
Beim Raffinieren von Kupfer entsteht nicht nur giftiger Rauch sondern auch Unmengen an schwefelsäurehaltigem Wasser. Schon in den 1880er und 90er Jahren richteten diese Nebenprodukte in Ashio irreparable Schäden an. Die Bäume sind bis heute entlaubt und abgestorben. Als es nach heftigen Regenfällen im Jahr 1896 außerdem zu Überschwemmungen kam, die die Ackerfläche in der gesamtem Umgebung mit giftigen Abwässern der Mine fluteten, wurde das Land für immer unbrauchbar.
Und in diesem Stil wurde hier bis vor Fünfzig Jahren noch geschürft und veredelt. Kein Wunder also, dass in diesem kontaminierten Landstrich mit der Aufgabe der Mine kein Mensch mehr wohnen blieb. Für Ruinenforscher lohnt sich der Besuch aber umso mehr.
- Einen tollen Bericht samt Fotos gibt es auf der Seite von Samuel Marshall.
Japans verlassene Freizeitparks
Nicht nur die verarbeitende Industrie hat in Japan bessere Tage gesehen. In den Wirtschaftsboomjahren entwickelten die Japaner ein ganz neues Freizeitgefühl.
Die Golden Weeks wurden nach dem 2. Weltkrieg zur Zeit des Wirtschaftsbooms eingeführt. Diese Urlaubswochen liegen in der beliebtesten Jahreszeit, mit zuverlässig gutem Wetter aber noch nicht zu hohen Temperaturen. In dieser Zeit wird die japanische Arbeiterschaft geschlossen in den Urlaub entlassen. Familien nutzen diese zu Kurztripps durch das eigene Land. Dadurch entstanden gerade an Orten, die Touristen sonst wenig zu bieten haben alle nur erdenkliche Arten von Themen- und Freizeitparks.
Jetzt ist Schluss mit lustig
Viele der Parks sind jedoch trotz anfänglich guter Besucherzahlen schnell pleite gegangen. Nicht zuletzt auch, weil die Japaner in den letzten 20 Jahren zwei heftige Wirtschaftskrisen zu verdauen hatten. In den meisten Fällen hat sich der Abtransport von Bauteilen, Fahrgestellen oder Automaten scheinbar nicht gelohnt.
Und da die Grundstücke meist weit außerhalb der Städte liegen, haben selbst Baulöwen kein Interesse daran, das sonst so kostbare Land anderweitig zu nutzen. Ob Dschungelpark, Wasserspass-Paradies, Russlanddorf oder ein Nachbau von Liliputh samt gigantischem Gulliver, alles steht heute leer und wartet nur darauf entdeckt zu werden. Zur Planung gibt es die wirklich umwerfenden Fotoserien aus den coolsten Batman-Schurken-Verstecken Japans von Michael John Grist.