Süße Maskottchen, kindliche Popstars, klein gezüchtete Haustiere: Woran liegt es, dass die stets gefasst wirkenden Erben der Samurai heute in einem Meer der Niedlichkeit versinken?

Alles ist kawaii

Die Verkultung von allem, was irgendwie süß ist, wird in Japan mit einem Wort ausgedrückt, der ebenso viele Bedeutungsnuancen hat wie das „Schlumpfen“ bei den Schlümpfen. Die Rede ist von Kawaii, einem Modebegriff der jüngeren Generationen für cooles, schönes, niedliches, charmantes, liebens- oder begehrenswertes. Längst beschränkt sich das Phänomen nicht mehr auf ein paar geekige Grund- und Mittelschülerinnen: Erwachsene Frauen, die Werbung, die Modebranche, Industrie und auch Japans harte Männer lassen sich nur zu gerne von diesem wohligen Gefühl der Niedlichkeit umschmeicheln.  

Exportschlager Wohlgefühl

Für uns Europäer ist der Kawaii-Kult zu einem der typischsten Merkmale Japans geworden. Passt auch, denn Kawaii ist das moderne Lebensgefühl der japanischen Wohlstandsgesellschaft. Ein Gefühl übrigens, dass auch all die asiatischen Nachbarländer inzwischen übernommen haben und auf ähnliche Weise zelebrieren.

Anfang 2000 kam es beispielsweise in mehreren McDonalds-Filialen in Singapur zu Ausschreitungen, weil die Gäste fürchteten, keine der limitierten Puppen der Kawaii-Ikone Hello Kitty mehr zu bekommen. Auch die westliche Welt hat längst ihren eigene aufgedrehten Anime-, Cosplay– und Lolita Gothic-Fans, die dem Kawaii verfallen sind.

Mädchen-Geheimschrift und katzenbörse

Eine wichtige Rolle bei der Kawaiisierung der japanischen Gesellschaft spielte auf jeden Fall die Allgegenwärtigkeit von Manga-Comics, Trickfilmen und ihren niedlichen Helden. Manga machen knapp 30 Prozent der Literatur des Landes aus – für Japaner kein Armutszeugnis. Kein Erwachsener muss sich schämen, sie zu lesen. Viele werden sogar extra für den Erwachsenenmarkt hergestellt. Auch Gebrauchsanweisungen, Infotafeln, inzwischen sogar eine Tageszeitung sind bebildert und mit Sprechblasen versehen.

Wikipedia benennt das Aufkommen einer Schulmädchengeheimschrift Ende der 70er Jahre als Geburtsstunde des Kawaii-Phänomens. Mit Druckbleistiften, die eine besonders feine Miene hatten, schrieben sich Freundinnen Nachrichten, fügten Sterne, Lateinbuchstaben, Smileys und ähnliche niedliche Dinge hinzu, bis kein Außenstehender mehr im Stande war, den Inhalt zu entziffern – auch nicht die Lehrer. Deswegen wurde die niedliche Schreibe in den meisten Schulen verboten – was natürlich ein Selbstläufer für die anschließende  Verkultung war.

Ein Meilenstein für den Vormarsch der Niedlichkeit war auch der Erfolg der Sanrio Merchandising Figur Hello Kitty. 1973 brachte der Seiden- und Geschenkartikel-Fabrikant eine Kinder-Geldbörse mit Katzenmotiv auf den Markt. Diese verkaufte sich so gut, dass weitere Artikel mit der mundlosen, weißen Latzhosenkatze folgten. Heute gibt es zigtausende verschiedene Hello Kitty-Produkte, mit denen Sanrio einen Jahresumsatz von über einer halben Milliarde US-Dollar erzielt.

Niedliche Dinge wurden in Japan zu Verkaufsgaranten, galten zudem als Hypefaktor für ein gutes Firmenimage. Diese Erkenntnis hatte zur Folge, dass das Land von einer Maskottchenarmee überrannt wurde. Jede Präfektur hatte plötzlich ihr eigenes – jedes Krankenhaus, Polizeibehören, Schulen, Unternehmen, sogar ultraharte Motorradgangs.

Idoru, CanCam & Bishonen

Es dauerte nicht lange, bis sich auch die Musikszene Kawaii zu Nutze machte. Mit dem Erfolg von Seiko Matsuda wurde Niedlichkeit seit Beginn der 80er Jahre zum zwingenden Habitus bei Idoru-Pop-Ikonen und ihren Fans. Immer mehr junge Frauen übernahmen den niedlichen Stil oder legten ihn auch mit dem Erwachsenwerden nicht mehr ab. Das I-Tüpfelchen setzte jüngst das Idol Kumiko Kōda, die dem Niedlichen einen Schuss „sexy“ hinzufügte. Das nennt sich dann übrigens Ero-kawaii (erotik-kawaii).

Auch Männer konnten sich dem Phänomen nicht entziehen: Der Bishonen (schöner junger Mann) wurde schnell zum neuen Schönheitsideal. Gerade im Bereich der Popkultur oder der Host (Gigolo)-Szene haben vor allem androgyne Jünglinge die Nase vorn.

Kawaii nahm nach und nach wirklich alle Bereiche des japanischen Alltags ein: Deko, Spielzeug und Kleidung. Das Magazin CanCam beispielsweise ermittelt über Leserinnenvorschläge die neuesten Kawaii-Modetrends, was bedeutet:  Süße Anziehsachen und Accessoires, die von Männern wie Frauen gleichsam als nett empfunden werden. Was dann in der Zeitung mit einer 650.000er Auflage angepriesen wird, ist laut Aussage der Can-Cam-Chefredakteurin kurz darauf ausverkauft.

Harmoniesucht kaufkräftiger Damen

Auch wenn niedliche Motive schon immer die japanische Kunst geprägt haben, ist Kawaii vor allem ein Ausdruck moderner japanischer Kultur.

Vor dem Wirtschaftsboom der  60er galt in Japan vor allem das Ideal der Selbstkontrolle und der zur Schau gestellten Emotionslosigkeit – also der Verhaltenskodex der Samurai – als nachahmenswert. Erst in den 70er/80er Jahren war in Japan erstmalig  eine Generation herangewachsen, die keine Existenzängste hatte, die konsumkräftig war und die es sich leisten konnte, nicht allzu schnell erwachsen zu werden. Kawaii ist damit definitiv auch eine Reaktion auf das in Japan herrschende Blitzkarrierediktat der so genannten Bildungsganggesellschaft.

Dazu kommt, dass Schulmädchen, Studentinnen und Singlefrauen in dieser Zeit von der Industrie als neue kaufkräftige Zielgruppe ausgemacht wurden. Der Konsummarkt richtete sich immer mehr auf Frauen aus. Die japanische Gesellschaft erhielt so ein immer niedlicheres Gesicht. Das Phänomen kann man übrigens auch in anderen hochentwickelten asiatischen Ländern beobachten, wie in Taiwan, Südkorea, Malaysia, Singapur oder China.

Süss macht Karriere

Es gibt aber auch eine negative Seite des Niedlichkeitstrends: Emanzipierte Frauen empfinden den Kawaii-Boom als krassen Rückschritt ihrer  Gleichstellungsbestrebungen.

Kawaii ist nämlich nicht nur hübsch aussehen oder verspielte Mode – es fördert auch das kindlich-naive, die weibliche Gefallsucht – im Extremfall zur Schau gestellte Dummheit und Hilflosigkeit. Japanische Karrierefrauen, die trotz Bestnoten und tadelloser Fähigkeiten kein Bein in die Chefetagen bekommen, kritisieren daher zurecht, dass junge Frauen durch den Kawaii-Kult freiwillig zu dem werden, was sich chauvinistische Männer schon seit Jahrzehnten wünschen – sogar noch ein bisschen niedlicher als erhofft.

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